Last Updated on 2020-04-19 by Birk Karsten Ecke
Die Rail Baltica soll in der letzten Ausbaustufe einmal die europäischen Großstädte Helsinki in Finnland, Tallinn in Estland, Rīga in Lettland, Kaunas in Litauen (mit einer Verbindung nach Vilnius) und Warschau in Polen mit Hochgeschwindigkeitszügen verbinden. Dieses Ziel wird seit 1994 verfolgt. Es stellt zweifellos das größte Infrastrukturprojekt der baltischen Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dar. Fertig gestellt werden sollte die Rail Baltica ursprünglich schon 2015, aber erst im Sommer 2014 unterzeichneten Litauen, Lettland und Estland einen Vertrag zum Bau der Eisenbahnstrecke, in europäischer Normalspur. Sie gründeten das Gemeinschaftsunternehmen RB Rail zur Koordination dieses ehrgeizigen Infrastrukturprojektes.

Bild: Das Areal des Hauptbahnhofes muss im Rahmen des Baues der Rail Baltica komplett umgestaltet werden.
Es sind zusätzliche Gleise in mitteleuropäischer Normalspur erforderlich.
Aufnahme von Juni 2017.
Die Planungen zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung sahen vor, die Rail Baltica bis 2025 fertiggestellt zu haben. 2026 sollten die ersten Hochgeschwindigkeitszüge rollen. Daraus wird nun aus verschiedenen Gründen ganz sicher nichts mehr. Terminpläne wurden bisher nicht eingehalten und Estland und Lettland werfen Litauen vor, das Projekt zu boykottieren und nur die eigenen Interessen zu vertreten. Im November 2019 präsentierte der damalige Geschäftsführer, der Finne Timo Riihimäki, der RB Rail, in Brüssel vor der Europäischen Kommission noch ein rosiges Bild vom Baufortschritt. Die EU finanziert das Projekt maßgeblich. Rihimäki ist inzwischen nach nur 8 Monaten aus “persönlichen Gründen” von seinem Vorstandsposten zurückgetreten.
Der Rücktritt kam aber keineswegs aus “persönlichen Gründen”. Der erfahrene Manager Rihimäki weiss, dass ein Projekt nur erfolgreich abgeschlossen werden kann, wenn es straff geleitet wird. Beim Bau der Rail Baltic wurde aber bisher auf die komplette Zufriedenheit aller Beteiligten gesetzt. Das hat zu endlosen Diskussionen ohne einen nennenswerten Projektfortschritt geführt. Über diese Situation sind innerhalb von nur anderthalb Jahren insgesamt fünf hochrangige Manager der Rail Baltic verzweifelt und haben gekündigt. Unter ihnen war auch der technische Direktor Mart Nielsen, der seinen Job nur anderthalb Jahre durchgestanden hat.
Finnland hat sich seit Herbst 2019 aus dem Projekt zurückgezogen, obwohl es sich erst ein dreiviertel Jahr vorher daran beteiligt hatte. Für Finnland hat das Projekt eigentlich eine große Bedeutung, weil wegen der geografischen Lage bisher fast alle Im- und Exporte aus und nach Mittel- und Westeuropa mit LKW-Fähren oder per Luftfracht abgewickelt werden müssen. Finnland hat sich an der Rail Baltica beteiligt, um mit einem professionellen Management das Projekt zu beschleunigen. Die Finanzierung der Anschlussinfrastruktur ist auf finnischer Seite ebenfalls gesichert.
Bisher wurde die RB Rail aber nach Aussage von Nielsen aber nicht wie ein Unternehmen geführt, sondern nach Art eines Parlamentes. Es gibt offensichtlich keine klaren Hierarchien, Verantwortlichkeiten und Entscheidungswege. Es fehlt derjenige, der endgültige Entscheidungen treffen und diese dann auch durchdrücken darf. Die Politik hat sich bisher immer wieder in die Geschäfte der RB Rail eingemischt, und zwar von drei Seiten. Der Aufsichtsrat der RB Rail, die darin sitzenden Politiker, hat schon lange die eigentliche operative Geschäftsführung vom Management übernommen.
Dazu kommt, das sich Lettland und Estland in traditioneller Verbundenheit zusammengeschlossen haben und Litauen beschuldigen, den Ausbau der Trasse zur polnischen Grenze technisch unzureichend ausgeführt zu haben. Litauen hat tatsächlich beim Bau der Strecke zwischen Kaunas und der polnischen Grenze auf voller Breite gepatzt. Die etwa 200 Kilometer lange Strecke wurde von der EU finanziert. Sie ist aber von den technischen Standards, die für die Rail Baltica gefordert sind, weit entfernt.
Von einer Hochgeschwindigkeitstrasse kann in dem Streckenabschnitt zwischen Kaunas in Litauen und Białystok in Polen nicht die Rede sein. Die Züge brauchen 5 Stunden für die Fahrt zwischen beiden Städten. Die Gleise wurden um Geld und Zeit zu sparen auf der alten Trasse verlegt. Die Züge können deshalb nur maximal 120 km/h anstatt der geforderten 234 km/h fahren. An Ausweichstellen sind nur 80 km/h möglich.
Ein weiter Fehler ist Litauen auf der Abzweigstrecke zwischen Kaunas und Vilnius unterlaufen. Auf dieser Strecke befindet sich auf dieser Trasse ein denkmalgeschützter Tunnel. Die Tunnelröhren sind so eng, dass sich keine zwei Gleise nebeneinander verlegen lassen. Eine einspurige Streckenführung widerspricht aber den technischen Standards der Rail Baltica. Eine Nachbesserung beider Strecken kostet nach ersten Abschätzungen etwa 700 Millionen €. Das ist doppelt so viel, wie die derzeitig verlegten Trassen.
Da fragt man sich, weshalb diese Probleme nicht bei der Kontrolle der Planungsunterlagen aufgefallen sind. In der Tat ist die Situation in Litauen ziemlich einzigartig. Litauen ist in der RB Rail über seine staatliche Eisenbahngesellschaft Lietuvos Geležinkeliai vertreten. Damit wird der litauische Anteil des Projektes von ein und dem selben Personenkreis geplant, gebaut und überwacht, was wie oben beschrieben nicht gut gehen konnte. Dieser Zustand hat mittlerweile auch die EU aufgeschreckt. Dem Aufsichtsrat der RB Rail wurde im Juni 2019 eine Frist bis zum 1. Januar 2020 gesetzt, um die internen Probleme zu lösen.
Bis Ende Januar 2020 sollte ein Plan vorliegen, der zeigt, wie das Projekt beschleunigt werden kann. Die weitere Cofinazierung der Rail Baltica durch die EU wurde mit der die Erfüllung von Meilensteinen und Verpflichtungen verbunden. Auf die Frage von Journalisten, wie es denn um die Forderungen der EU bestellt sei, antwortete der lettische Verkehrsminister Tālis Linkaits kurz und schmerzlos: “Fragen Sie die Litauer!”. Seinerseits behauptet Litauen, das Estland zu viel Geld für den Bau der Rail Baltica ausgibt.
Der ehemalige litauische Verkehrsminister Rokas Masiulis sieht die die lettisch-estnischen Vorwürfe gelassen. Litauen liegt ja nur knapp 540 Tage hinter dem Plan. Das ist immerhin die geringste Verzögerung unter den drei baltischen Projektpartnern. Er gibt dem Management von RB Rail die Schuld am schleichenden Projektfortschritt. Zudem ist Litauen nicht bereit, die Hoheit über die Bahnstrecke an RB Rail zu übertragen. Nach litauischen Verständnis gehört die Eisenbahnlinie als Infrastruktur in die Hände des Staates. Davon abzuweichen ist Litauen absolut nicht bereit. Lettland und Estland möchten aber, dass RB Rail die Strecke verwaltet. Beide Länder haben die Befürchtung, bei der Priorisierung ihrer Züge auf litauischem Territorium benachteiligt zu werden.
Lettland und Estland brauchen sich aber nicht hinter Litauen zu verstecken. Während in Litauen wenigsten schon Streckenabschnitte der Rail Baltica – wenn auch mit zweifelhaftem Erfolg – in Betrieb sind, laufen in Lettland und Estland noch die Vorbereitungen für die Infrastrukturmaßnahmen. Mit technischen Problemen kämpft man hier noch lange nicht. Über den Umbau einiger Bahnhöfe und den Bau von ein paar Brücken ist man in beiden Ländern noch nicht hinaus gekommen.
Die größte Herausforderung im Streckenverlauf der Rail Baltica liegt in der lettischen Hauptstadt Rīga. Hier muss eine neue Eisenbahnbrücke mit zwei Gleisen Normalspur und zwei Gleisen Breitspur über die Daugava gebaut werden. Die alte Eisenbahnbrücke ist denkmalgeschützt und ihr Anblick von der Altstadt darf durch die neue Brücke nicht gestört werden. Der Streckenführung sind der Zentrale Omnibusbahnhof, das Einkaufszentrum Titāniks mit dem großen Parkhaus und Teile des zum Weltkulturerbe gehörenden Zentralmarktes im Wege. Über ein paar nett anzusehende Computergrafiken und Landkarten mit einer denkbaren Trassenführung gibt es nichts konkretes.
Überhaupt hängen Lettland und Estland mit dem Ankauf von Land für die Trasse weit hinter dem Plan. In Lettland wurden bis jetzt von 1.623 erforderlichen Grundstücken nur 2 gekauft. In Estland von 862 nur 29 Grundstücke. In Litauen fehlt von 1.346 nur 1 Grundstück. Die zeitliche Verzögerung beträgt in Lettland 632 Tage und in Estland 815 Tage. Es ist vollkommen klar, dass diese Verzögerungen auch zu höheren Baukosten führen werden. Wir dürfen schon gespannt sein, wann die Rail Baltica in Betrieb geht und wie hoch die Baukosten am Ende sein werden.
Interne Links:
Fototour und Wirtschaft & Politik: Rīga – Das wird sich in der Nähe des Zentrums der lettischen Hauptstadt mit dem Bau der Rail Baltica ändern – Das Infrastrukturprojekt mit den größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts
Wirtschaft & Politik: Rail Baltica – Wenn Politiker Technikern misstrauen oder wie man Steuergelder verschleudern kann
Externe Links:
re:baltica – Rail Baltica: Why the Baltic High Speed Train is Running Off Rails (lv/en/ru)
https://rebaltica.lv/2020/02/de-rail-baltica-kapec-baltijas-atrvilciens-skrien-no-sliedem
https://en.rebaltica.lv/2020/02/derail-baltica-why-the-baltic-high-speed-train-is-running-off-rails
https://ru.rebaltica.lv/?p=1901